Im Netz (4) • Jul' Maroh
Julie war gestern
Blau ist eine lahme Farbe, findet Comiczeichnerin Julie Maroh heute. Vor zehn Jahren erhielt ihr Erstlingswerk
»Le bleu est une couleur chaude«
den Publikumspreis in Angoulême, die Verfilmung gewann 2013 als erste Comicadaption überhaupt die Goldene Palme von Cannes. Doch die Französin hat abgeschlossen mit dem Kapitel. Und nicht nur damit. Auch Julie gibt es nicht mehr – abgesehen von der Webadresse:
Juliemaroh.com.
Die Comicerzählung »Blau ist eine warme Farbe« schildert einfühlsam und grafisch bestechend die zarten Bande zwischen Schülerin Clementine und Kunststudentin Emma, dem Mädchen mit den blauen Haaren. Julie Marohs Debüt war ein Welterfolg – auch als Film.
Die Seite betreut Maroh selbst. Ein Paradebeispiel für einen informativen, facettenreichen und persönlichen Internetauftritt. Aber auch ein Paradebeispiel für schlechte Laune.
Mademoiselle Muffelkopf
Miesepetrig gab sich Maroh bereits 2013 im
Blog: Ein langer Beitrag würdigt damals die Verfilmung ihres Comics durch den französischen Regisseur Abdellatif Kechiche.
Lesenswert. Ein reflektierter Text, der Verständnis zeigt für die kreative Freiheit anderer.
Wenn der letzte Absatz nicht wäre...
Kechiche ließ Julie Maroh in seiner Dankesrede zur Verleihung der Goldenen Palme unerwähnt und rückte sie auf dem roten Teppich nicht ausreichend in den Vordergrund, und überhaupt: er ignoriert alle ihre Kontaktversuche...
Mademoiselle ist eingeschnappt,
une
beleidigte Leberwurst. Kann man ja sein, aber muss man das so raushängen lassen?
Hier die englische Fassung des Blogbeitrags.
Heute will sie von ihrem gefeierten Debüt nichts mehr wissen. Ob Comic oder Verfilmung: Geht es um »Blau ist eine warme Farbe«, grummelt sie: Non, merci. Keine Signierstunden, keine Statements, keine Teilnahme an Podien oder Veranstaltungen, die irgendwas damit zu tun haben. Hier die englische Fassung der Fragen & Antworten.
Julie? War gestern.
Tatsächlich will Julie Maroh heute nicht mehr Julie sein, ist auch nicht mehr Julie. Unter dem Namen Jul' lebt die Französin als ›nicht-binäres Mischwesen‹ und »transfeministische/r Aktivist/in«. Offen bekennt sich Jul' zu ihrer-seiner Transsexualität. 2019 ließ er-sie sich Brustgewebe entfernen, vergangenes Jahr begann eine Hormontherapie.
Diese Entwicklung beleuchtet die Website (Rubrik »Queerness«). Leser* erfahren, wie sich das Mädchen Julie den fremd wirkenden Körper zurückerobert und als Jul' ein neues Selbst sucht. Ein Prozess, der mit Schmerzen und Anfeindungen verbunden ist. Das erklärt die mürrische Haltung, die vielfach hervorschimmert; angenehmer macht es sie nicht.
Spannend, aber anstrengend
Marohs Seite brächte mehr Spaß, wenn sie nicht nur stellenweise auf Englisch verfügbar und der Ton entspannter wäre. Hoch anzurechnen freilich ist der 36-Jährigen die Offenheit, mit der sie für ihre und er für seine sexuellen Identitäten und queere Anliegen kämpft – allen Widerständen zum Trotz.
PS. Den Zeichenstift hat Maroh nicht aus der Hand gelegt. Zu besichtigen in der Galerie der Seite.
* auch Leserinnen
aus: »Blau ist eine warme Farbe« (Splitter 2013); Zeichnerin: Julie Maroh
• Offizielle Website von Jul' Maroh
• Blau ist eine warme Farbe bei blaufarn